Man kann nicht an Biathlon denken, ohne dass einem der Name einer bestimmten Familie vor Augen steht. Obwohl es nicht ungewöhnlich ist, dass Geschwister in der gleichen Mannschaft laufen, ist der Fall der Gasparin-Schwestern dennoch etwas Außergewöhnliches. Sie sind nicht nur zu dritt und jeweils in der Lage, bei den verschiedensten Anlässen unter die Top 10 zu laufen. Vor ihrer Zeit gab es keine schweizerische Damenstaffel im Weltcup. Doch dies ist nicht die Geschichte einer Familie, deren Plan es war, die Biathlonwelt ihres Landes auf den Kopf zu stellen. Diese Geschichte soll eher zeigen, wie das Schicksal manchmal an die richtige Tür klopft und die Entscheidungen Einzelner plötzlich ein ganzes Land mitreißen können.
„Die Staffelrennen sind immer etwas Besonderes für uns, denn wir drei haben so viele erste Male erlebt“, erklärt Selina Gasparin, die schon bei mehreren Anlässen die Biathlongeschichte ihres Landes neu geschrieben hat. Sie war die erste Schweizerin, die eine olympische Biathlonmedaille sowie ein Weltcuprennen gewann. Doch auch die Glanzpunkte ihres Teams sind ihr extrem wichtig. „Wir waren dabei, als die Schweiz im Weltcup zum ersten Mal eine Damenstaffel stellte, dann bei der WM, dann bei Olympia… Und zum ersten Mal zusammen auf dem Podest zu stehen, war einfach fantastisch.“
Ihre jüngste Schwester Aita erinnert sich auch noch gut an diesen Tag in Östersund: „Den ganzen Sommer lang haben wir zusammen mit unserer Trainerin Sandra Flunger diverse Staffelszenarien durchgespielt. Wir waren schon früher nah an einem Podestplatz dran und wussten, dass ein perfektes Rennen uns aufs Treppchen bringen könnte. Aber wir hätten nie gedacht, dass wir dieses Ziel bereits im ersten Staffelrennen der Saison erreichen würden!“
„2014 haben wir noch darum gekämpft, nicht überrundet zu werden“, fügt sie hinzu, „Der Podiumsplatz war eine unglaubliche Leistung. Das mit meinen zwei Schwestern zu schaffen, war einfach ein unglaubliches Gefühl. Lena Häckis letzte Runde war so nervenaufreibend und ich habe andauernd von neuem Gänsehaut bekommen. In diesem Moment waren wir überglücklich und stolz und mussten vor Freude weinen. Die langen Jahre der harten Arbeit haben sich endlich ausgezahlt. Das ist nicht nur ein großer Schritt für uns, sondern für die gesamte Geschichte des schweizerischen Biathlonsports!“
Elisa erzählt eine lustige Anekdote über diesen Tag, als die ganze Schweiz sich mit ihnen freute – nur ihre Eltern nicht… oder besser gesagt: Sie mussten warten, bis sie jubeln durften. „Unsere Eltern hatte Theaterkarten. Sie haben ihre Handys ausgeschaltet und allen gesagt, dass sie das Stück sehen wollen, ohne zwischendrin unser Ergebnis zu erfahren. Wir haben den Treppchenplatz gegen 5 Uhr abends erkämpft, aber sie haben es erst gegen um 9 herausgefunden! Wir Mädels – Lena, Selina, Aita und ich – haben uns das Rennen am gleichen Abend noch einmal angesehen. Es war unglaublich emotional.“
Wie bereits erwähnt war die faszinierende Karriere der drei Schweizerinnen nicht unbedingt abzusehen. Die Gasparin-Schwestern wurden eher aus Zufall Biathletinnen.
„Ich war Langläuferin und bin nach Norwegen zum Studium gegangen“, erklärt Selina. Sie ahnte damals nicht, dass ihr Sportlerleben sich grundlegend ändern sollte. „Wegen meines Auslandsaufenthalts wurde ich aus der schweizerischen Langlaufnationalmannschaft geworfen. Aber ich wollte mein Studium nicht aufgeben, denn in meiner Klasse waren Größen wie Martin Sundby und andere zukünftige Olympiamedaillengewinner. Es war ein Kurs für Topathleten und ich habe ihn geliebt. Als bin ich geblieben. Während der Sommerferien bin ich nach Hause gereist und habe mit der Regionalmannschaft trainiert. Eines Tages sind wir nach Andermatt ins Trainingszentrum gefahren. Dort habe ich die Chance bekommen, einmal das Schießen auszuprobieren… und es war Liebe auf den ersten Blick! Ich war dermaßen begeistert, dass sie mich sofort zu einer Trainingseinheit mit der Nationalmannschaft eingeladen haben. Am ersten Tag gaben sie mir eine Ersatzwaffe und meinten: ‚Jetzt bist du Biathletin‘. Als ich zurück nach Norwegen ging, wusste ich noch nicht sicher, dass Biathlon mein Schicksal sein würde. Also habe ich weiter Langlauf trainiert. Aber in meiner Freizeit bin ich allein oder mit meinen Biathlon-Klassenkameraden zum Schießstand gegangen.“
In der Zwsischenzeit klopfte das Biathlonschicksal auch an die Tür eines anderen Familienmitglieds.
„Lustigerweise hat Elisa zur gleichen Zeit zu Hause mit Biathlon angefangen, weil einer ihrer Freunde Biathlet war und sie die Sportart spaßig fand. Sie war noch so jung. Es ging nur darum, es auszuprobieren und Spaß zu haben. Aber für mich war eine Chance. Man hatte mich aus der Langlaufmannschaft geworfen, aber das Biathlon-Team wollte mich bei sich aufnehmen. Ich bin das Risiko eingegangen, weil ich wusste, dass ich gut laufen konnte. Meine Schießleistung war allerdings grottenschlecht. Aber ich habe es als Herausforderung aufgefasst und mir wurde schnell klar, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.“
Aita erreichte ihr Biathlonschicksal in Gestalt ihrer Schwestern.
„Ohne meine Schwestern wäre ich nie Biathletin geworden“, gibt die jüngste der drei zu, „Seit ich denken kann, habe ich Langlauf betrieben. Außerdem habe ich zehn Jahre lang geturnt. Als meine Schwestern mir zu meiner Konfirmation mit 16 eine Waffe schenkten, waren meine italienischen Großeltern richtiggehend schockiert. Sie haben nicht verstanden, um was es in diesem Sport geht. Und auch meine anderen Verwandten nicht, um ehrlich zu sein.“
Selina muss bei dem Gedanken an diesen Tag immer noch lachen. „Beim Mittagessen nach der Messe wickelte die kleine Aita vor der gesamten Familie – die Hälfte aus Italien, die andere Hälfte aus Ticino – ein Gewehr aus dem Geschenkpapier! Es muss ziemlich seltsam auf alle gewirkt haben. Aber Aita meinte, dass sie schon immer die Präzision der Bewegungen im Turnen geliebt hat. Im Langlauf ging es ihr eher darum, Dampf abzulassen. Also war Biathlon die perfekte Kombination dieser beiden Aspekte. Und sie war in einem Alter, in dem sie eine Wahl treffen musste. Es war also der perfekte Kompromiss.“
Wir reden oft über die Biathlonfamilie und die starken Bindungen, die der Weltcupzirkus zwischen den Athleten und den Nationen schafft. Und auch die Gasparin-Familie kam durch den Biathlonsport noch enger zusammen.
„Es ist mir sehr wichtig, meine Schwestern im Team zu haben. Das ist nicht nur in sportlicher Hinsicht praktisch (wir trainieren zusammen, teilen unsere Gedanken und helfen einander), sondern es hat uns familiär enger zusammengebracht, als wenn wir unterschiedliche Wege gegangen wären“, erläutert Selina und auch Elisa bestätigt die Einschätzung ihrer großen Schwester: „Ich denke, dass man seinen Schwestern gegenüber in Hinblick auf persönliche Dinge offener sein kann. Manche Sachen lassen sich nicht so leicht mit einem Mannschaftskameraden besprechen. Auch unsere Eltern kommen oft vorbei, um uns zu unterstützen und das bringt uns eng zusammen… Ich denke, dass es mir wirklich sehr hilft, meine Schwestern und meinen Freund dabeizuhaben. Er ist unser Skitechniker. So wird mein Heimweh nicht allzu groß!“
„Natürlich können Schwestern manchmal nerven“, gibt Aita lachend zu, „Jeder, der Geschwister hat, weiß, wovon ich rede! Aber ein einfacher Grund macht all das wieder wett: Sie sind deine Familie. Sie stimmen dich auf ein Rennen ein, heitern dich auf, wenn es nicht so gut gelaufen ist, und freuen sich mit dir, wenn du Erfolg hattest.“
„Vielleicht schätze ich all das noch mehr, weil ich weiß, wie es ist, allen in einem Team zu sein“, meint Selina, „Wenn man nur mit Männern trainiert und herumreist und keine Staffeln laufen kann… Dann ist ein Zimmer mit seinen Schwestern zu teilen, absoluter Luxus. Wir würden uns nie als Rivalen ansehen, obwohl wir natürlich alle Erfolg haben wollen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich Biathlon schon so lange die Treue halte.“
Erst kämpfte sich Selina Gasparin allein durch den Weltcup, jetzt steht die schweizerische Damenmannschaft auf Rang zwei der Staffelwertung, Aita landete zum ersten Mal in den Top 10 und Lena Häcki schaffte den Sprung aufs Treppchen. Doch auch andere Namen strahlen: Amy Baserga krönte sich vergangene Saison zur Junior-Cup-Gesamtsiegerin und gewann eine Medaille bei Juniorenweltmeisterschaft zu Hause in Lenzerheide. Es ist deutlich, dass sich seit Selinas ersten Probeschüssen die Zeiten geändert haben.
„Ich glaube, dass Selinas Silbermedaille in Sotschi das Schlüsselerlebnis für den schweizerischen Biathlonsport war“, sagt Elisa, „Und dann folgten unsere tollen Ergebnisse: die erste Damenstaffel, der erste Podestplatz, die ersten Medaillen… Unser Sport verfügt jetzt über eine größere Fangemeinde und mehr Sponsoren. Und das wird den Kindern und Jugendlichen dabei helfen, besser und professioneller zu trainieren, als wir es in ihrem Alter konnten.“
Selina gibt zu, dass sie ziemlich überrascht war, als die Biathlonbegeisterung über die Schweiz hereinbrach. Vor allem, wenn sie daran denkt, wie alles angefangen hat. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass wir so viele Jahre später eine so starke Mannschaft besitzen. Darunter auch viele unglaublich talentierte Nachwuchsathleten. Es ist schön zu sehen, wie das Biathlonzentrum in Lenzerheide vor meinen Augen gewachsen ist. Nicht nur ich, sondern meine Stadt und mein Land haben sich in allen Bereichen weiterentwickelt: Infrastruktur, Skitechniker, Trainer, Know-How… Wir haben fast bei Null angefangen und jetzt sind wir nah dran an der Weltelite. Darauf bin ich sehr stolz – und auch auf den Gedanken, dass ich mit meinem Beispiel und meinen Ergebnissen vielleicht ein bisschen dazu beigetragen habe. Aber insgesamt sind wir diesen Weg alle gemeinsam gegangen.“
„Selinas Kinder wachsen mit zwei Elternteilen auf, die beide 2014 in Sotschi eine Olympiamedaille gewonnen haben. Sollten sie sich jemals für Sport interessieren, haben sie gute Trainer zu Hause“, sagt Aita, „Elisa und ich haben noch keine Kinder. Wir werden sehen, wie die Zukunft der Gasparin-Familie im Biathlon aussieht!“
Aber Selina möchte ihre Töchter zu nichts zwingen: „Ich weiß, was das Sportlerleben einem abverlangt. Ich weiß, wie hart es ist… Aber ich wäre stolz, wenn sie alles haben, was es dazu braucht. Ich meine, Motivation, Leidenschaft und die Bereitschaft, hart zu arbeiten, Opfer zu bringen und auf Langzeitziele zu setzen. Egal, ob als Biathletinnen oder in einer anderen Sportart… Aber wenn sie sich nicht für Sport entscheiden, möchte ich, dass sie sich in einem anderen Bereich hohe Ziele stecken und diese verfolgen. Es gibt so viele Dinge im Leben und ich möchte, dass sie sich einen Lebensweg auswählen, den sie mit Leidenschaft gehen… Wenn Mama und Papa Olympiamedaillen zu Hause hängen haben, ist es vielleicht nicht so interessant, selbst Sportler zu werden. Dann sind andere Karrieren vielleicht verlockender!“
Es kann also eine Weile dauern, bevor eine weitere Gasparin ihr Debüt im Biathlonzirkus gibt. Aber der Name wird nicht vergessen. Die die Geschichte der drei Schwestern wird noch lange Jahre erzählt und in den kommenden Saisons weitergeschrieben werden.
Photo courtesy of Gasparin family and Christian Manzoni