Nach fünfzehn Jahren im Biathlon-Weltcup fiel es Anaïs Bescond nicht leicht, das Gewehr an den berühmten Nagel zu hängen. „Die Entscheidung ist mir schwergefallen. Es ist eine Herausforderung, nach so vielen Jahren im Weltcup auf einmal etwas anderes zu machen. Ich wusste erst nicht, was ich als Nächstes tun sollte“, so die heute 37-Jährige. Doch sie blieb nicht lange im Ungewissen, sondern erhielt vielmehr ein verlockendes Angebot: Nach den französischen Meisterschaften im März erkundigte sich das französische Para-Biathlonteam bei ihr, ob sie sich eine Stelle als Schießtrainerin vorstellen könne.
Anfangs lehnte Anaïs Bescond die Anfrage ab: „Ich hatte bis dahin noch keinerlei Berührung mit dem Parasport. Weder kannte ich die Athletinnen und Athleten noch wusste ich, wie man sie trainiert.“ Nach einer kleinen Auszeit, in der sie ihre Gedanken und ihr Leben neu sortierte und einen Trainerlehrgang abschloss, entschied sich die Französin, die Herausforderung anzunehmen. Bereits in der Saison 2022/23 war sie erstmals mit dem Para-Team unterwegs.
Im Para-Biathlon wird nur liegend geschossen. Dabei tragen die Biathletinnen und Biathleten ihre Waffe nicht auf dem Rücken, sondern bekommen sie erst am Schießstand von den Coaches gereicht. Je nach Ausprägung ihrer körperlichen Einschränkungen schießen sie entweder mit einem Laser- oder einem Luftgewehr. „Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich diesen Schritt gegangen bin und nun als Trainerin im Para-Biathlon arbeite. Das ist eine große Entwicklungschance für mich und ich kann dem Biathlon treu bleiben. Der Teamgeist ist hervorragend, es fühlt sich für mich wie eine Familie an.“
Anaïs Bescond trainiert ein vierköpfiges Team im Alter von 20 bis 35 Jahren. Ihrer Meinung nach könnte das Team noch viel größer sein. „Leider ist nur wenigen jungen Menschen in Frankreich bewusst, dass sie auch mit einer Behinderung Leistungssport betreiben können. Es gibt einige Programme für junge Talente, um sich auszuprobieren, doch letztlich funktioniert die Mundpropaganda immer noch am besten. Wir sollten daher mehr über den Parasport reden“, so Bescond.
Sie hofft darauf, dass sich durch die Paralympics 2030, die in den französischen Alpen stattfinden werden, mehr junge Menschen für den Sport begeistern lassen. Um den Parasport weiter voranzubringen, engagiert sich die Französin auch in der Internationalen Biathlon Union (IBU), wo sie als Bindeglied zwischen Verband und Athletenebene fungiert. „Ich liebe den Biathlon einfach. Deshalb möchte ich die Sportart auf allen Ebenen weiterentwickeln.“ Anaïs Bescond hat sich dem Mentoringprogramm der IBU angeschlossen, das insbesondere ehemalige Profi-Biathletinnen beim Übergang von ihrer sportlichen in ihre berufliche Laufbahn und dem Bekleiden von Führungspositionen unterstützt.
Mit ihren ehemaligen Teamkolleginnen Marie Dorin Habert und Marie-Laure Brunet tauscht sich Bescond regelmäßig über alte Zeiten im Biathlon, aber auch über das neue französische Team aus, das so unglaublich stark ist. „Wir sind noch immer befreundet und telefonieren regelmäßig miteinander. Manchmal vermisse ich unsere gemeinsame Zeit. Gleichzeitig bin ich etwas wehmütig, dass ich keinen Platz in dem aktuell so stark besetzten Frauenteam habe. Die Mädels sind super.“ Um Anflüge von Melancholie zu vertreiben, spielt Anaïs Bescond Klarinette oder geht laufen. Und dann kümmert sie sich wieder um ihre Schützlinge und gibt alles, um sie zu Medaillen zu führen.
Fotos: IBU