BW: Lisa, der vergangene Winter war für dich sicher unglaublich und hat ein märchenhaftes Ende genommen. Welche Erinnerung ist dir Monate später noch präsent und worauf bist du besonders stolz?
Lisa: Da kann ich keinen konkreten Moment herausgreifen. Denn den Grundstein für meinen Erfolg in der Vorsaison habe ich schon weit vor Saisonstart gelegt. Ich bin stolz darauf, wie ich mich zurückgekämpft und meine Ängste, Sorgen und Depression überwunden habe. Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe, als ich ganz von vorn anfangen musste und nicht einmal mehr wusste, wer ich überhaupt bin. Jetzt bin ich einfach nur glücklich. Nicht wegen der Titel und Trophäen, sondern weil ich durch all diese Erfahrungen viel gelernt habe und eine bessere Athletin und ein besserer Mensch geworden bin. Dafür bin ich dankbar.
BW: Letzten Winter durften wir einen großartigen Kampf um den Gesamtweltcup verfolgen. Ingrid, wie hast du alles erlebt?
Ingrid: Es war die beste Saison meiner Karriere. Inmitten einer solch intensiven und dynamischen Situation hast du keine Zeit und keine Nerven, das wertzuschätzen, was du erreicht hast. Als ich dann zur Ruhe gekommen bin und Zeit gefunden habe, über alles nachzudenken, ist mir bewusst geworden, dass ich viele gute Rennen abgeliefert, mich enorm verbessert und beinahe den Gesamtweltcup gewonnen habe.
BW: Was nimmst du mit?
Ingrid: Zum einen natürlich, dass sich die Dinge im Biathlon jeden Tag aufs Neue ändern können. Einmal denkst du, dass es richtig Klick gemacht hat. Am nächsten Tag ist die Tür wieder zu. Im Sommer habe ich viel Zeit in meine körperliche Fitness und die technische Vorbereitung investiert. Außerdem habe ich gelernt, mit guten und weniger guten Tagen umzugehen.
BW: Ingrid, du hattest deine Höhen und Tiefen, wenngleich sie vielleicht nicht so dramatisch ausgefallen sind wie bei Lisa. Mit welchen Gefühlen hast du Lisas Werdegang in den letzten 4–5 Jahren verfolgt?
Ingrid: Ich habe mit Lisa nie darüber gesprochen, wie knapp sie den Gesamtweltcup 2018/19 verpasst hat. Ich konnte mir ihren Schmerz am Saisonende vor fünf Jahren kaum vorstellen. Jetzt kann ich ihn sehr gut nachvollziehen. Wenn du so viel Druck spürst und ständig im Fokus deiner Konkurrentinnen und der Öffentlichkeit stehst, fällt es schwer, dich zu konzentrieren. Doch aus schmerzhaften Erfahrungen wie einer verpassten Großen Kristallkugel am letzten Rennwochenende lernt man einfach mehr als aus positiven Erlebnissen. Sollte ich je noch einmal die Chance erhalten, um den Gesamtweltcup zu kämpfen, werde ich hoffentlich besser vorbereitet sein. Allein sich die Ausgangslage zu verschaffen, um nach dem Gesamtweltcup zu greifen, ist ein überaus schwieriges Unterfangen. Da müssen viele Dinge zu deinen Gunsten laufen. Man braucht gute Rennen und ein bisschen Glück.
BW: Lisa, nun hat Ingrid zum Saisonfinale etwas Ähnliches durchmachen müssen wie du im Jahr 2019. Welchen Rat möchtest du ihr geben?
Lisa: Um ehrlich zu sein möchte ich überhaupt keine Ratschläge verteilen. Und ich mag keine Phrasen dreschen, insbesondere dann nicht, wenn andere mir gegenüber so aufgetreten sind. Das hat mich sehr geärgert. Das Einzige, was mir einfällt: Lebe im Moment.
BW: Apropos: Hattest du vor dem letzten Rennen in Canmore noch an die Ereignisse vor fünf Jahren gedacht? Wenn ja, wie bist du diese Gedanken wieder losgeworden?
Lisa: Ja, bei mir haben solche Gedanken tatsächlich an die Tür geklopft. Dann bin ich aufgestanden, habe gefragt, wer da ist, und hab mich dann wieder hingelegt. Ich hatte so viel Selbstvertrauen, dass ich mich nicht habe aus der Ruhe bringen lassen. Ich wusste, dass mein Moment gekommen war, und ich hätte nicht zugelassen, dass irgendetwas ihn mir zunichtemacht.
BW: Lisa, Ingrid sagte, wenn sie den Titel verlieren würde, wäre sie froh, ihn an dich zu verlieren. Wie fühlt sich ein solch freundschaftliches Verhältnis an?
Lisa: Ich bin sehr froh, dass sie so gedacht hat. Am Ende ist der Sport auch aus diesem Grund so wundervoll: Obwohl wir um die gleichen Ziele kämpfen, haben wir eine enge Verbindung zueinander. In gewisser Weise ist diese Verbindung weitaus aufrichtiger. Denn obwohl nur eine von uns gewinnen kann, gibt es immer jemanden, der dich in den Arm nimmt oder tröstende Worte spendet. Das ist schon besonders.
BW: Ingrid, wie unterscheidest du eine Freundin im Privaten von einer erbitterten Konkurrentin auf der Strecke und am Schießstand?
Ingrid: Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Wunsch zu gewinnen, dem Wunsch, dein Bestes zu geben, und dem Wunsch, die anderen zu schlagen. Im Wettkampf trete ich gegen meine Freundinnen an, die gleichzeitig meine Konkurrentinnen sind. Ich wünsche den anderen nie, dass sie keinen Erfolg haben. Ich möchte einfach jeden Tag die beste Version meiner selbst sein. Wenn viele Athletinnen um das gleiche Ziel kämpfen und anderen alles Gute wünschen, wird das oft fehlinterpretiert. Ich habe großen Respekt vor meinen Konkurrentinnen, da ich genau weiß, wie hart sie arbeiten. Ich hatte eine enttäuschende Weltmeisterschaft, aber die Erfolge von Julia Simon haben mich aufgemuntert. Das ist das Schöne am Biathlon: Alles ist im ständigen Wandel und du musst die guten Momente einfach genießen – deine eigenen und die deiner Freunde.
BW: Lisa, große Erfolge sind natürlich toll. Doch oftmals gehen damit auch zahlreiche Verpflichtungen abseits der Strecke einher. Wie hast du das ganze Drumherum nach Saisonende gemeistert?
Lisa: Sagen wir, es war ziemlich anstrengend, vor allem, weil ich am Ende der Saison ganz schön kaputt war. Doch in meinem Urlaub in Schottland konnte ich meine Akkus wieder aufladen und den Stress danach ganz gut meistern. Zum Glück habe ich außerdem fähige Menschen um mich herum, die mir bei diesen Verpflichtungen unter die Arme greifen. Das alles allein zu meistern, wäre eine Herkulesaufgabe.
BW: Ingrid, wie hast du die Saison verarbeitet? Mit wem hast du am meisten gesprochen?
Ingrid: Wenn die Kacke am Dampfen ist, ist es super, wenn du gute Leute um dich herum hast (lacht). In der letzten Saison gab es extreme Momente, in denen mich die Trainer wohl noch besser kennenlernen konnten als zuvor. Ich bin überzeugt, dass uns dieses Wissen in Zukunft helfen wird, falls es mir einmal an Selbstvertrauen mangeln sollte.