Eigentlich wollte sie es langsam angehen. Ihre letzten Rennen als aktive Biathletin lief Karolin Horchler im März 2022. Die Entscheidung, wann dieser Moment kommt, reifte in den letzten Jahren und Monaten. Nach der Weltmeisterschaft in Antholz 2020, wo sie mit ihren Teamkolleginnen Vanessa Hinz, Franziska Preuß und Denise Herrmann-Wick Silber in der Staffel gewann, waren ihr nächstes Ziel die Olympischen Winterspiele von Peking. Dann kamen die Verletzungen. Erst am Schienbein operiert, dann zwei Rippenbrüche und ein gebrochener Fuß. „Die Belastung war für meinen Körper nach 27 Jahren Biathlon einfach zu hoch. Er hat mir deutliche Zeichen gegeben“, sagt die 34-Jährige.
„Ich habe für mich gemerkt, dass es Zeit ist, den Leistungssport hinter mir zu lassen. Es war eine tolle Zeit, aber ich war nicht mehr bereit 100 Prozent zu geben.“ Für sie sei es genau der richtige Weg gewesen, ohne viel Medienrummel und Fernsehkameras ihre Ski und das Gewehr an den Nagel zu hängen. „Ich habe in meinem Inneren gespürt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist.“ Die Erste, die von ihrer Entscheidung erfuhr, war ihre Zwillingsschwester Kristin.
Zunächst wusste Karolin Horchler nicht, was sie nach dem Sport machen will. Sie habe nie einen Plan B gehabt. Die Absicherung durch ihren Arbeitgeber die Bundeswehr hat ihr jedoch die nötige Freiheit gegeben, abzutrainieren und nach einer neuen Herausforderung zu suchen. Über Nacht kam ihr dann ein Einfall. „Ich bin nachts aufgewacht und wusste plötzlich: ich will Hebamme werden“, erklärt sie. Dass der Start des Dualen Studiums, welche sie zur Hebamme ausbildet, schon sechs Monate nach ihrem Karriereende begann, war reiner Zufall.
Es war schon zu spät, sich für den Jahrgang im September zu bewerben. Sie habe dann in einem Krankenhaus hospitiert und sich schon darauf eingestellt, dass sie erst in einem Jahr beginnen kann. Doch noch im August kam der Anruf, dass ein Platz freigeworden sei. „Als ich das erste Mal im Kreißsaal war und gemerkt habe, welche Energie dort herrscht, wusste ich, dass das meine Berufung ist. Die Geburt ist ein Wunder und Frauen dabei zu begleiten ein Geschenk.“
Ein Jahr ihres insgesamten dreieinhalb Jahre dauernden Studiums hat Karolin Horchler bereits hinter sich gebracht. Die Umstellung vom Trainingszentrum in die Universität sei hart gewesen. „Ich studiere dual, das bedeutet, dass ich blockweise für 8-10 Wochen in der Uni bin und danach oder davor für die gleiche Dauer in der Klinik. Semesterferien bedeutet arbeiten in der Klinik. Es bleibt also wenig Zeit für die Prüfungsvorbereitung.“ Meist geht ein Uni-Tag von acht bis 18 Uhr. Danach gehe sie zum Ausgleich joggen oder im Winter langlaufen.
„Den ganzen Tag auf der Schulbank zu sitzen, ist richtig anstrengend. Aber ich habe große Motivation zu lernen, da ich es für mich mache und es mir viel Spaß macht.“ Während der Wochen im Krankenhaus arbeitet sie im Schichtdienst. Das ist Kontrastprogramm, denn es kommt nicht selten vor, dass sie während eines Neun-Stunden-Dienstes die ganze Zeit auf den Beinen ist. Den richtigen Umgang mit Stress und Belastungen habe sie im Leistungssport gelernt. Während ihrer Biathlon-Karriere habe sie viele Erfahrungen gemacht, die ihr jetzt im Berufsleben helfen. Was Biathlon und Hebammen-Beruf eint: man müsse immer flexibel sein.
Obwohl es in Deutschland einen Mangel an Hebammen gibt, lässt sich Karolin Horchler nicht entmutigen. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen setzt sie sich dafür ein, dass der Beruf wieder mehr Wertschätzung und Anerkennung bekommt. „Ich bekomme so viele nette Worte von den Frauen, die ich betreue. Mir gefällt, dass es in meinem Job sehr viel Menschlichkeit gibt. Ich bin dabei, wenn ein Mensch auf die Welt kommt. Das ist das echte Leben. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen“, sagt die 34-Jährige. Wie in ihrer Biathlonzeit gibt es auch im Kreißsaal Höhen und Tiefen. Doch das ist es, was für Karolin Horchler das Leben lebenswert macht.
Fotos: IBU archive, Karolin Horchler