Ganz oben auf der Liste stehen die Ermüdung und Erschöpfung, die sich nach einer anstrengenden WM und gegen Ende jeder Saison unvermeidlich einschleichen. Alle Athlet*innen haben versucht, zu den Weltmeisterschaften in der Bestform zu sein. Manche waren auf den Punkt fit, andere weniger. So oder so: Sie alle haben in diesen zwei Wochen mental und körperlich Federn gelassen. Vor den ersten Wettkämpfen am Holmenkollen war praktisch keine Zeit für echtes Training, also lag der Fokus auf Ruhe und Erholung. Einige Kandidat*innen, die in NMNM knapp die Einzelmedaille verpasst und ihre Ziele noch nicht erreicht haben, könnten noch einen Podestplatz oder zwei einfahren: Emilien Jacquelin, Sebastian Samuelsson, Franziska Preuss oder Lisa Theresa Hauser. Gleichzeitig haben sie alle und auch andere vielleicht nicht mehr viele Körner übrig und versuchen jetzt nur noch, sich durch die letzten Saisonwochen zu retten. Ob jemand aus dem letzten Loch pfeift und schon vom Frühlingsurlaub am Strand träumt, oder eben doch noch ziemlich frisch ist, dürfte sich in den Podestplätzen widerspiegeln.
Der WM-Kater und Infekte könnten sich auch auf den Gesamtsieg im Weltcup auswirken, insbesondere bei den Frauen, wo das Rennen noch sehr offen ist.
Die kommende Woche ist noch ohne Strapazen zu bewältigen: Ein kurzer Flug nach Oslo und dann vier Wettkampftage mit Einzeln, Massenstarts und den recht machbaren gemischten Staffeln. Dann wird es mühsam: Ein langer Anreisetag nach Salt Lake City, eine Zeitverschiebung von acht Stunden und nur wenige Tage Zeit, um sich zu akklimatisieren. Nach Soldier Hollow steht ein weiterer Reisetag auf dem Programm, zwar nur mit zweieinhalb Flugstunden, aber doch acht Stunden Reisezeit von Tür zu Tür, weiteren Waffenkontrollen und viel Potential für Probleme. Vier Wettkampftage vor Saisonende dürften dann manche nicht mit Siegeshunger in den Augen, sondern eher mit müdem, leerem Blick am Start stehen.
Nach der langen Anreise gilt es auch, sich in Soldier Hollow an die dünne, sehr trockene Höhenluft auf 1600 m zu gewöhnen. Wer am Biathlon-Austragungsort der Winterspiele 2002 erfolgreich sein will, muss auf jeden Fall ausreichend trinken. Auch für die Skitechniker ist die trockene Luft eine Herausforderung. Der Schnee in Utah ist anders als alles, was sie aus Europa kennen. Zum Glück kennen sich die meisten Mannschaften nach früheren Besuchen in Soldier Hollow damit aus, aber 2024 ist eben auch ihr erstes Jahr hier ohne Fluorwachse. Körperlich werden sich die meisten Athlet*innen schnell akklimatisieren. Wem das nicht gelingt, der wird an diesem exponiert gelegen Austragungsort mit steilen Anstiegen und nur kurzen Erholungsphasen keine Freude haben.
Die letzte Saisonwoche im Canmore Nordic Centre wird auf 1400 m Höhe körperlich nicht ganz so herausfordernd. Trotzdem sind die Strecken des Olympia-Austragungsorts von 1988 mit wieder anderem Schnee nicht zu unterschätzen. Auch wenn es bis dahin Mitte März sein wird, ist Canmore bisweilen noch für eine ganz andere Überraschung gut: Schnell aufziehende arktische Kaltfronten bringen entweder eisige Temperaturen von bis zu -25 °C oder Unmengen von Schnee. Hoffen wir, dass es dazu nicht kommt, aber Höhe und Wetter waren schon immer die Querschläger in diesem Outdoor-Sport!
Am Ende jeder Saison beenden einige Athlet*innen ihre Karriere. Auch wenn es nur noch 24 Monate bis zu den nächsten Olympischen Winterspielen sind, obendrein im allseits beliebten Antholz, könnte es zum Ende dieser Saison noch ein paar Abschiede geben. Bislang haben nur Benedikt Doll und Mona Brorsson offiziell ihren Rückzug aus dem Sport verkündet, aber eine lange, erfolglose Saison oder eine Verletzung könnten noch ein oder zwei andere zu diesem Schritt bewegen.
Am spannendsten dürfte es aber in den nächsten drei Saisonschlusswochen werden, die Trends, Nachwuchstalente und großen Stars im Auge zu behalten, die diese Saison so interessant gemacht haben. Man denke nur an die Möglichkeit, dass die Top 6 in der Weltcup-Gesamtwertung der Männer komplett von Norwegen besetzt werden, oder Justus Strelow die Saison mit einer übermenschlichen Trefferquote von 95 % beendet. Wird Tommaso Giacomel sich den U25-Titel sichern, den er in der letzten Saison knapp verpasst hat? Hat Vetle Sjaastad Christiansen noch eine kleine Show-Einlage für einen besonderen Moment zum Saisonausklang geplant? Wird bei den Frauen noch jemand die überwältigend starke französische Mannschaft herausfordern? Ob Lou Jeanmonnot die 95 % am Schießstand schaffen und noch ein paar Siege einfahren kann? Lisa Vittozzi: Weltcup-Gesamtsiegerin? Schwedische Rache nach einer eher mäßigen IBU Weltmeisterschaft?
Und dann kann es da natürlich immer noch jemanden aus der zweiten Reihe geben, der am Holmenkollen, in den USA oder Kanada noch mal zaubert, während die Stars schon damit beschäftigt sind, Medaillen zu polieren oder ihren Kontostand zu checken. Es ist Biathlon... im letzten Trimester kann alles passieren!
Noch drei Wochen Biathlon... auf geht‘s!
Fotos: IBU/ Christian Manzoni, Vianney Thibaut, Bjorn Reichert, Harald Deubert