„Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und kann das Geschehene noch immer nicht richtig begreifen. Doch ich richte den Blick stets voraus: Wo kann ich mich verbessern? Welches Ziel setze ich mir als Nächstes? Ich ruhe mich nicht auf dem Erfolg aus, sondern konzentriere mich auf kommende Highlights wie Olympia. Ich habe noch einige Jahre im Biathlon vor mir, daher gilt es, mich am Schießstand und in der Loipe weiter zu verbessern. Ich schaue einfach nach vorn. Doch wenn ich zurückblicken müsste, käme mir alles vor wie ein Märchen.“
Durch die unglaublichen Erfolge von Laegreid änderte sich sein Ziel für die Saison 2020/21 grundlegend. Zu Beginn des Vorwinters wollte er nur im Weltcup-Team bleiben: „Ich hätte nie zu träumen gewagt, so viele Ziele in einer einzigen Saison zu erreichen. Anfang des Winters hatte ich mir lediglich auf die Fahne geschrieben, im Team zu bleiben. Ich wollte nicht zurück in den IBU-Cup, weil ich damit eigentlich abgeschlossen hatte. So viel zum Druck. Als ich mein erstes Rennen in Kontiolahti gewann, drehte sich alles auf den Kopf. Von meinen Schultern wich jegliche Anspannung und ich konnte mich voll und ganz auf das konzentrieren, was ich am besten kann. Das war ein Geschenk. Ich konnte an meinen Stärken arbeiten, anstatt Angst vorm Scheitern zu haben.“
Trotz seines bescheidenen Saisonziels trat er in den ersten Wettkämpfen sehr selbstbewusst auf. „Vor der Saison hatte ich kein allzu gutes Gefühl. Auf Rollerski bin ich bedeutend schlechter als auf Schnee. Mein Selbstbewusstsein braucht im Sommer immer einen kleinen Schub, weil ich auf Rollen viel langsamer bin. Im ersten Trainingscamp auf Schnee konnte ich dann mit Tarjei Boe mithalten – zwar nicht immer, aber doch häufig. Das hat mich zuversichtlich gestimmt. Deshalb konnte ich auch in Kontiolahti an ihm dranbleiben. Er war mir genau eine Runde voraus, also heftete ich mich in den Umläufen 1–4 einfach an seine Fersen. Er hatte das ideale Tempo für mich.“ Das Ergebnis: Mit 20 perfekten Schuss und Weltcupsieg Nummer 1 legte Laegreid den Grundstein für eine spektakuläre Saison.
Der damals 23-Jährige lernte bei seinem Debüterfolg eine wichtige Lektion: „Gib dein Bestes. Denn du kannst nichts erreichen, auf das du nicht hingearbeitet hast. Um deine Ziele zu erfüllen, musst du im Rahmen deiner Möglichkeiten arbeiten und zeigen, was dich stark macht. Das habe ich getan und es hat sich ausgezahlt. Mir wurde bewusst, dass es um nichts anderes für mich geht. Ich muss nicht wie JT Boe schießen oder sprinten wie Jacquelin. Wenn ich mich auf das konzentriere, was mich auszeichnet, kann ich meine Ziele erreichen. Letztlich darf man den Bogen nicht überspannen: Konzentriere dich also auf deine Stärken, gib dein Bestes und du wirst Erfolg haben. Dieses Mantra habe ich die gesamte Saison über beibehalten. Nach dem ersten Rennen war alles Weitere Bonus für mich.“
Kaum zu glauben, aber wahr: der starke Laegreid hat auch einige Schwächen. Ohne zu zögern und mit einem kräftigen Lachen sagt er: „Alle wissen, dass ich kein guter Sprinter bin! Wenn eine Gruppe ins Ziel kommt, habe ich mit Sicherheit das Nachsehen. Ich versuche immer, ein Rennen vor der Zielgeraden durch eine saubere Schießleistung und ein hohes Tempo in der Loipe zu entscheiden. Denn tendenziell neige ich dazu, auf der letzten Runde einzubrechen. Bisher hatte ich immer genügend Vorsprung herausgelaufen.“ Im Sommer versuchte er, an dieser Schwäche zu arbeiten: „Ich trainiere immer viele Sprints in der Vorbereitung, aber ich werde nicht schneller!“
Während die meisten seiner Kontrahenten am Ende einer langen Saison auf Reserve laufen und versuchen, die letzten Wettkämpfe irgendwie zu überstehen, zeichnete der junge Norweger ein anderes Bild: „Zum Saisonende hatte ich schon noch ein paar Körner. Alles war neu für mich, jedes einzelne Weltcuprennen gab mir neue Motivation. Ich hatte die ganze Saison über viel Spaß und war ein bisschen traurig, als es vorbei war. Dass ich am Ende Platz 2 in der Gesamtwertung hinter Johannes belegt hatte, war ein großer Erfolg für mich. Ich bin zufrieden und konnte die Saison richtig genießen. Die Rennen und der Druck haben mir nichts ausgemacht. Vielleicht hatte ich deshalb noch Energie im Tank.“
Ein Geheimnis seines Erfolgs ist auch die positive, kollegiale Atmosphäre innerhalb des norwegischen Teams. „Zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren unserer Mannschaft gehört, dass wir uns gegenseitig unterstützen, auch in den Einzelrennen. Wir sind einfach füreinander da. Keiner hat Geheimnisse vor dem anderen. Wir wollen gemeinsam das bestmögliche Ergebnis für Norwegen erreichen. Und wenn einer mal einen schlechten Tag hat, gratuliert er den anderen trotzdem. Wir alle erleben Höhen und Tiefen, doch als Mannschaft helfen wir einander aus.“
Mit Blick auf die neue Saison und die Olympischen Winterspiele in Peking verbrachten die Norweger – wie viele andere Teams auch – den Sommer zum Großteil in der Höhe. „Unsere Strategie in diesem Jahr war, mehrere Höhentrainingslager in Vorbereitung auf Olympia zu absolvieren. Wir haben unser Trainingsprogramm etwas anders als sonst strukturiert und relativ zeitig mit harten Kombieinheiten begonnen, da wir in der Höhe intensiv trainieren wollten. Die Camps haben mir gutgetan. Ich komme mit der Höhe prima zurecht, obwohl ich noch nicht so viel Erfahrung damit habe. Manchmal spüre ich die Höhe gar nicht, wie bei meinem ersten Sieg im IBU-Cup in Martell. Antholz ist da schon ein anderes Kaliber, wobei es auch an der Strecke dort liegen könnte. 1700 oder 1800 Meter über dem Meeresspiegel fühlen sich manchmal anders an. Daher war es gut, die Camps an verschiedenen Orten zu veranstalten.“
Der Mann, der im vergangenen Winter eine Trefferquote von 92 % aufwies, verriet uns dabei, dass er einen seiner besten Vorbereitungstage auf mittlerer Höhe in Obertilliach hatte: „Es war eine einfache Schießeinheit. Doch ich fühlte mich wie der King. Jede Übung gelang mir perfekt. Ich war schnell und treffsicher. Das war einer der Tage, der dich als Biathlet enorm weiterbringt und motiviert. Da gelang einfach alles.“
Im vergangenen Winter staubte Laegreid gleich vier WM-Goldmedaillen ab. Damit stieg er in den kleinen Kreis von Biathlon-Legenden auf, denen dieses Kunststück ebenfalls gelang: Ole Einar Bjoerndalen, Martin Fourcade und Emil Hegle Svendsen. Laegreid bleibt bescheiden: „Ich bin doch nur der Sturla aus Norwegen. Mit diesen Koryphäen des Biathlons verglichen zu werden, ist verrückt. Ich finde dafür keine Worte. Ich denke, vor mir liegen noch ein paar Jahre. Dass mir dieser Erfolg nun gelungen ist, fühlt sich surreal an.“
Ziel: stetige Verbesserung
Nach seinem Raketenstart im Weltcup bleibt die Frage, welche Ziele sich Sturla Holm Laegreid als Nächstes gesteckt hat: Will er einfach nur gesund bleiben und eine gute Saison bestreiten? „Um ehrlich zu sein, ja. Ich möchte noch lange im Biathlon mitmischen. Mein größter Motivationsfaktor ist, mich ständig zu verbessern. Im Schießen bin ich noch nicht bei 100 % und ich weiß, dass ich auch in der Loipe noch mehr Potenzial habe. Daher will ich mich weiterentwickeln und im kommenden Winter besser abschneiden als in der Saison davor. Dabei erwarte ich allerdings nicht, nochmals eine derart gute Saison hinzulegen.“
Der Wunsch sich zu verbessern ist nach Aussage von Laegreid keine Selbstverständlichkeit – auch nicht für einen talentierten Athleten wie ihn. „Ich möchte unwahrscheinlich gern zu den Olympischen Spielen. Es klingt vielleicht verrückt, aber als Norweger hast du nie eine Garantie auf einen Startplatz, da es so viele Athleten gibt, die auch das Zeug dazu hätten. Die Qualifikation wird schwer genug, doch ich bin bis in die Haarspitzen motiviert. Wenn ich mich weiter verbessern kann, habe ich gute Chancen.“
Fotos: IBU/Christian Manzoni, Jerry Kokesh