Die Mission von Johannes Thingnes Boe, bei den Weltmeisterschaften in Lenzerheide das 21. WM-Gold zu holen und damit zum alleinigen Rekordhalter aufzusteigen, hatte viel mit mentaler Frische und physischer Vorbereitung zu tun. Seine Entscheidung, das Höhentrainingslager der Norweger zu verlassen und sich allein auf die WM vorzubereiten, hat mich beeindruckt. Es war ein mutiger Schritt, der sich für ihn jedoch ganz klar ausgezahlt hat. Es braucht Selbstbewusstsein und Überzeugung, sich von den klassischen Mechanismen zu verabschieden und auf das zu vertrauen, was für ihn selbst am besten funktioniert. Seine neue Energie hat mich an meine eigene Vergangenheit zurückerinnert, als ich mich nach den Olympischen Winterspielen von PyeongChang 2018 in eine abgelegene Hütte zurückgezogen habe, um meine Akkus wieder aufzuladen. Manchmal ist es genau das Richtige, gegen den Strom zu schwimmen. Dass Johannes nach seiner Goldmedaille im Sprint in der Verfolgung auch noch das Double perfekt machte und damit einen weiteren Rekord aufstellte, hat seinen Entschluss nur weiter untermauert.
Und nun zu Franziska Preuß: In der Verfolgung hat sie eine absolute Weltklasseleistung gezeigt und dadurch ihr lang ersehntes erstes WM-Einzelgold gewonnen. Am Schießstand landete sie 20 Treffer und konnte sich auch läuferisch der starken Konkurrenz von Elvira Öberg, Lena Häcki-Groß und des französischen Teams erwehren. Ihr Erfolg war indes kein Zufall, sondern beruhte auf einer lehrbuchreifen Renneinteilung. Des Weiteren haben Franzi und ihr Umfeld zehn Jahre lang hart auf dieses WM-Gold hingearbeitet, wobei sie in ihrer langen Laufbahn zahlreiche schwierige Situationen zu meistern hatte. Am meisten beeindruckt hat mich ihre mentale Stärke in der Verfolgung, vor allem beim letzten Schießen: Trotz des immensen Drucks ist sie ruhig und bei sich geblieben. In Kombination mit dem gut dosierten Tempo hat sich Franziska Preuß den Titel wahrlich verdient und ist eine würdige Weltmeisterin!
Campbell Wrights bemerkenswerte Gelassenheit unter Druck ermöglichte es ihm, sich zwei Silbermedaillen zu sichern und bewies damit, dass sein Talent weit über das jugendliche Versprechen hinausgeht. Seine entspannte und dennoch konzentrierte Herangehensweise hat ihn nicht nur zum neuen Gesicht des US-amerikanischen Biathlons und zu einem würdigen U23-Wertungsführer gemacht, sondern ihn auch als ernsthaften Anwärter auf die Gesamtwertung der Zukunft positioniert. Und er hat offensichtlich ein sehr gutes Team um sich.
Ich wurde mehrfach gefragt, ob mich das starke Auftreten von Justine Braisaz-Bouchet in Lenzerheide überrascht habe. Ihre aktuelle Top-Form war vielleicht nicht in dieser Deutlichkeit abzusehen, ist aber auch keine riesige Überraschung. Zugegeben: Vor den Weltmeisterschaften waren ihre Leistungen im Weltcup durchwachsen, vor allem am Schießstand. Allerdings gibt es Orte, die einer Athletin oder einem Athleten einfach liegen. Dazu zählt für Justine ganz klar Lenzerheide. Vor dieser WM hat sie hier drei von drei Rennen gewonnen. Und bei ihrem vierten Start ließ sie einen weiteren Sieg folgen. Wenn sich jemand an einem bestimmten Ort wohlfühlt, kann sich dieses Gefühl in wiederholten Erfolgen niederschlagen.
Das gilt jedoch nicht für die deutschen Männer, zumindest noch nicht. Vor einem Jahr gewann der mittlerweile zurückgetretene Benedikt Doll den Weltcup-Sprint in Lenzerheide, Philipp Nawrath war damals Dritter und Philipp Horn Fünfter. Bisher verlaufen die Weltmeisterschaften für die deutschen Männer eher frustrierend, vor allem am Schießstand. Die Enttäuschung ist offensichtlich. Während die individuellen Schießsequenzen solide aussahen, konnten die DSV-Athleten dies jedoch nicht in konstante Wettkampferfolge umsetzen. Das Selbstvertrauen spielt eine große Rolle und im Moment passt es einfach nicht. Die Coaches bestätigen zwar gute Trainingsleistungen, doch wenn man diese im Wettkampf nicht bestätigen kann, steigt der Druck immer weiter.
Auch einige andere große Namen dürften mit der ersten WM-Woche noch nicht zufrieden sein, wenngleich sie in den nächsten Wettkämpfen ihre Chance wittern werden: Sturla Holm Laegreid und Tarjei Boe wollen wie JT Medaillen für Norwegen holen, während Selina Grotian, Lou Jeanmonnot und Sebastian Samuelsson im Kampf um die nächsten WM-Meriten auch ein gehöriges Wörtchen mitreden dürften. Freuen wir uns in der zweiten Wettkampfwoche also auf neue Überraschungen, noch mehr Spannung und Dramatik sowie weitere herausragende Leistungen.