Nach dem letzten Wettkampf im vergangenen März hielt Lisa Vittozzi die riesige Kristallkugel für den Weltcup-Gesamtsieg in den Händen, nachdem sie 24 Stunden zuvor Ingrid Landmark Tandrevold das Gelbe Trikot abgenommen hatte. Nach ihrem schwachen 31. Platz in der Saison 2021/22 war Vittozzi fast schon abgeschrieben, und ihre Leistung schien wie aus einem Märchen. Doch zu Beginn der neuen Saison haben vier Frauen – Lou Jeanmonnot, Tandrevold, Justine Braisaz-Bouchet und Julia Simon – bessere Chancen auf den Titel als Vittozzi, die in Kontiolahti nicht dabei sein wird.
Titelverteidigerin Vittozzi hatte nach ihrer überragenden Saison 2023/24 die Oberhand, doch das änderte sich, als sie wegen Rückenproblemen die ersten drei Einzelwettkämpfe verpasste. Da jeder Wettkampf in die Gesamtwertung einfließt, wird Vitozzi ihren Titel nicht verteidigen können. Ihr Motto „Wenn du etwas willst, musst du alles geben, um deine Träume zu verwirklichen“ wird nun auf eine harte Probe gestellt. Nach einer Karrierebestleistung von 92 % Treffsicherheit am Schießstand, einem IBU-WM-Titel und drei weiteren Medaillen sowie sechs Saisonsiegen könnte sie zwar immer noch vorne mitmischen, aber nicht mehr um den Spitzenplatz kämpfen. Das ist die Chance für ihre Konkurrentinnen auf die große Kristallkugel.
Jeanmonnots stetiger Aufstieg bringt die 26-Jährige in die Spitzengruppe: Die IBU-Cup-Gesamtsiegerin 2021/22 wurde in ihrer ersten vollen Weltcup-Saison Elfte und im vergangenen Jahr Zweite. Der neue französische Star holte zwölf Podestplätze, darunter vier Siege. Ihre leichten Ausrutscher, Platz 13 und 15 in Hochfilzen, gaben am Ende der Saison wahrscheinlich den Ausschlag. Jeanmonnot konnte mit Vittozzis 92 % Treffsicherheit am Schießstand mithalten und gewann die Massenstartwertung. Es wird schwer sein, Jeanmonnot davon zu überzeugen, dass sie die Gesamtwertung 2024/25 nicht gewinnen kann.
Die Saison 2023/24 war für Tandrevold die beste ihrer Karriere. Obwohl sie bis Mitte März die Gesamtwertung anführte, ging es für die Norwegerin vor allem am Ende der Saison auf und ab, doch sie zeigte sich zufrieden mit ihrer Saison: „... Ich hatte viele gute Rennen und habe enorme Fortschritte gemacht.“ Über den Verlust des Gesamtsiegs: „Man lernt mehr aus einer schmerzhaften Erfahrung, wie dem Verlust des Gesamtsiegs in der letzten Woche der Saison, als aus einer guten Erfahrung.“ Das war Tandrevold offensichtlich eine Lektion, denn sie dominierte den Saisonauftakt in Sjusjön mit einem Sprint/Massenstart-Doppel und schoss an beiden Tagen gut. Eine furiose letzte Runde und ein Fotofinish im zweiten Wettkampf bestätigten Tandrevold: „Ich habe das Gefühl, dass ich körperlich da bin, wo ich sein muss.“ Nach ihrem schnellen Start und dem wiedergewonnenen Selbstvertrauen kann sich die stets positiv denkende Norwegerin nun am letzten Tag der Saison das Gelbe Trikot vorstellen.
Braisaz-Bouchet meldete sich nach ihrer Mutterschaftspause eindrucksvoll zurück. Wie Vittozzi holte sie sechs Siege, schoss so gut wie noch nie in ihrer Karriere und krönte sich im Massenstart der Biathlon-WM zur Weltmeisterin. Wie bei Jeanmonnot und Tandrevold waren es ein paar Wettkämpfe zu Beginn der Saison, die den Unterschied zwischen Platz eins und vier ausmachten. Bei den jüngsten französischen Auswahlrennen kam sie 24 Sekunden hinter Simon ins Ziel, allerdings mit drei Strafen im Vergleich Simon, die eine hatte. Braisaz-Bouchet muss sich von 82% auf 85% Treffsicherheit beim Schießen steigern, um die Gesamtwertung zu gewinnen.
Simons Rückstand von 97 Punkten auf Vittozzi scheint groß zu sein, aber nur ein kleiner Ausrutscher hier und da hat die IBU-Sprint- und Verfolgungsweltmeisterin von ihrem zweiten Titel in der Gesamtwertung abgehalten. Ihre um zwei Prozentpunkte schlechtere Leistung beim Schießen und ihre manchmal langsame Kadenz verdeutlichen, wie nah sie dem ultimativen Preis ist. Die 28-Jährige hatte den ganzen Sommer über eine Glückssträhne: Sie gewann Titel bei Blink, dem Martin Fourcade Nordic Festival und verteidigte Mitte Oktober ihren Titel in der Sommerverfolgung. Kürzlich gewann sie den Massenstart bei den französischen Auswahlrennen in Bessans vor Jeanmonnot und Braisaz-Bouchet. Simon scheint bereit zu sein: „Die Vorbereitung ist lang und ich bin bereit für ein Trikot, auch wenn ich normalerweise langsam in die Saison starte. Ich bin froh, dass wir mit den Staffeln beginnen!“ Es wäre keine Überraschung, wenn Simon und Tandrevold sich die ganze Saison über ein Duell ums Gelbe Trikot liefern.
Neben diesen fünf Frauen gibt es mehrere Anwärterinnen, die dem Gesamtsieg in den letzten Jahren sehr nah kamen oder um ihn gekämpft haben.
Lena Häcki-Groß, die Offenbarung des letzten Jahres, konnte jahrelang nur einen einzigen Podestplatz vorweisen, doch mit zwei Siegen und drei weiteren Podestplätzen schaffte die Schweizerin den Durchbruch. Ihren Erfolg verdankte sie nicht zuletzt ihren präzisen, schnellen Schießzeiten. Zusammen mit ihrer starken Leistung auf der Strecke bildeten sie eine Erfolgsformel, die mit zwei Siegen bei den jüngsten Schweizer Selektionswettkämpfen bestätigt wurde.
Franziska Preuß startete mit zwei frühen Podestplätzen, einer starken Leistung am Schießstand und einer Tasse Kaffee im Gelben Trikot in die neue Saison. Nach der IBU-WM unterbrach sie ihre Saison, um sich auf gesundheitliche Probleme zu konzentrieren. Ein entschlossenes Comeback gipfelte in einem Kurz-Einzelsieg bei den deutschen Sommermeisterschaften. Preuß' Leistung am Schießstand und ihre Gesundheit werden über ihren Erfolg entscheiden.
Die Öberg-Schwestern waren der großen Kristallkugel beide verlockend nah (Hanna war dreimal Vierte, Elvira 2021/22 Zweite). Nach zwei IBU-WM-Goldmedaillen 2023 stand Hanna in der vergangenen Saison nur einmal auf dem Podest. Ein Teamsprintrennen vor kurzem zeigt, dass sie bereit ist für eine große Saison. Die jüngere Schwester Elvira belegte in der Gesamtwertung 2023/24 den 7. Platz, hatte einen Sieg und drei weitere Podestplätze zu verzeichnen, büßte aber fünf Punkte auf dem Schießstand ein. Elvira, eine der schnellsten Frauen auf Skiern, hat kürzlich beim Saisonauftakt in Idre das Sprintfeld weit hinter sich gelassen. Wenn sie wieder zu ihrer früheren Treffsicherheit beim Schießen zurückfindet, ist das in dieser Saison der Schlüssel zu ihrem Erfolg.
Obwohl das Feld insgesamt nicht so groß ist wie bei den Männern, sieht die Kristallkugel eine noch spannendere Saison als letztes Jahr voraus. Bleiben Sie dran...
Fotos: IBU/Christian Manzoni, Nordic Focus