Herrmann erinnert sich an ein Gespräch mit ihrer Teamkollegin Vanessa Hinz wenige Stunden vor dem Start über 15 km. „Am Tag zuvor hatte Deutschland die erste Goldmedaille im Rennrodeln geholt. Ich habe mir die Siegerehrung angesehen. Ich überlegte, an was man wohl denkt und wie man sich fühlt, wenn man eine Goldmedaille bekommt. Es wäre wohl wie ein Traum oder ein Märchen. Am nächsten Morgen sagte ich zu Vanessa Hinz: ‚Es ist verrückt. Was würdest du denken, wenn du Gold gewinnst?‘ Sie antwortete: ‚Heute Abend wird eine der Biathlonmädels Olympiasiegerin sein – in wenigen Stunden.‘ Ich entgegnete: ‚Ja, sicher, wenn das Rennen startet wird am Ende jemand gewinnen!‘ Ich habe versucht, den Tag zu genießen und meine Leidenschaft für den Sport zu leben. Es war ein tolles Rennen. Ich erinnere mich, was ich am Ende dachte, wie ich mich auf bestimmte Streckenabschnitte und das Schießen konzentriert habe… In der Schlussrunde wusste ich, ich hatte ein gutes Rennen mit einem Fehler abgeliefert, aber es konnte ja noch jemand fehlerfrei bleiben. Ich habe alles aus mir herausgeholt. Ich wusste, es war ein gutes Rennen, aber mehr nicht… Letztendlich war es mein perfekter Tag, aber ich musste bis zu Ende warten (um das Ergebnis zu erfahren).“
BW: Seitdem sind einige Monate vergangen. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie jemand als Olympiasiegerin vorstellt. Haben Sie es schon vollständig realisiert?
DH: Es ist verrückt, wenn man den eigenen Namen und das Wort „Olympiasiegerin“ in einem Satz hört. Dann begreift man, dass es wirklich wahr ist. Man sieht sich um und denkt: ‚Ich? Okay, hier ist sonst niemand, also muss es stimmen’.
BW: Für Sie wurde vor kurzem zu Hause (in Bockau) ein großer Empfang ausgerichtet. Wie war das?
DH: Es war sehr cool. Es ist immer schön, nach Hause zu kommen. Wir sind ein kleiner Ort. Die Atmosphäre war wirklich schön. Es war wunderbar, zu Hause zu sein und alle Freunde und Familienmitglieder zu sehen. Ich bin an diesem Ort aufgewachsen. Viele Leute freuen sich für mich und kennen mich, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich war überglücklich, sie zu sehen und die Energie im Ort zu spüren, die diese Veranstaltung erst ermöglicht hat.
BW: Was denken Sie über den Empfang. Begreifen Sie dadurch erst, wie weit Sie gekommen sind, seit Sie ein kleines Mädchen waren?
DH: Auf alle Fälle. Der Empfang fand in der Turnhalle meiner alten Schule statt. Dort habe ich mit Sport angefangen und ich habe viele schöne Erinnerungen daran. Aber damals war es einfach nur Sport zum Spaß. Wenn man zwei Olympiamedaillen besitzt, ist das der Lohn für all die Jahre voller harter Arbeit – auch für die Menschen, die mir auf meinem Weg geholfen und mich angetrieben haben.
BW: Hätte man Ihnen vor Olympia gesagt, dass Sie Gold im Einzel über 15 km holen, wie hätten Sie darauf reagiert?
DH: (lacht) Es war mein Ziel, um Einzelgold mitzukämpfen. Es war mein Plan, nicht gleich zu Saisonbeginn in Bestform zu sein. Ich habe gehofft, dass es im Januar bergauf geht. Es war eine schwierige Zeit und ich hatte Probleme, meine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. In einigen harten Wochen konnte ich kaum an meinem Ziel festhalten. Dein Trainer und deine Familie müssen immer an dich glauben. Und man muss selbst an sich glauben. Als ich zum Biathlon gewechselt bin, waren die 15 km nicht meine Lieblingsdisziplin. Aber in den letzten Jahren sind sie mir immer mehr ans Herz gewachsen, nachdem ich einige gute Rennen gezeigt habe. Auf dem Einzel lag aber nicht mein Fokus. Ich wollte einfach nur meine alte Form zurück und die Leidenschaft für den Sport, ohne Druck. Ich denke, es war ein Sieg über mich selbst, meinen Geist. Ich wollte meine letzten Olympischen Spiele genießen und in jedem Rennen Spaß haben, meinem Plan folgen und mich nicht auf die Ergebnisse fokussieren.
BW: Sie sind zum Biathlon mit dem Wunsch gekommen, die Beste zu werden. Auf Ihrem Weg haben Sie WM- und Olympiagold gewonnen. Hätten Sie das je erwartet?
DH: Im Langlauf habe ich nur eine Medaille erreicht. Ich wusste, wie hart man dafür arbeiten muss und wie viel Einsatz der Erfolg erfordert. Als ich gewechselt habe, war es mein Ziel, in der Staffel zu laufen und vielleicht um Medaillen mitzukämpfen. Zwischen Platz eins und Platz drei besteht ein großer Unterschied. Dieser kleine Schritt erfordert unglaublich viel Arbeit. Jede Erfolgsgeschichte ist anders. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich Weltmeisterin und Olympiasiegerin werde. Die ersten Jahre liefen gut. Normalerweise folgt man einem strukturierten Plan durch den IBU Cup und dann in den Weltcup. Aber ich habe schon in meiner ersten Saison einen IBU-Cup-Sieg und einen Weltcupsieg in der Staffel eingefahren mit einem starken deutschen Team um Laura Dahlmeier. Das hat mich motiviert. Ich habe begriffen, dass ich sogar über meine Grenzen hinausgehen kann. Es war gut, dass ich jeden Tag im Training gesehen habe, wie gut und schnell die Mädels in Ruhpolding schießen. Das hat mich angetrieben. Ich wollte nicht langsam schießen, um auch ja alle Scheiben zu treffen. Ich hätte nie gedacht, dass die ersten Jahre so gut laufen würden.
BW: Es wäre leicht gewesen, die Biathlonwaffe in diesem Frühling an den Nagel zu hängen. Ist Oberhof Ihre große Motivation? Oder der Gedanke, dass Sie vielleicht gerade auf dem Höhepunkt sind und sich sonst ewig fragen würden: Was wäre wenn?
DH: Das ist die Hauptsache: Wenn man noch ein oder mehr Jahr vor sich hat, sollte man nicht auf dem Höhepunkt sein. Man sollte sich stattdessen überlegen, in welchem Bereich noch Luft nach oben ist. Das ist die tägliche Motivation eines Athleten, wenn es regnet oder man mal wieder die Scheiben nicht trifft. Dann muss man fest daran glauben, dass man sich noch verbessern kann. Die Heimweltmeisterschaften sind eine riesige Motivation für das gesamte deutsche Team. Ich habe sehr gute Erfahrungen in Oberhof gemacht. Auch gute Langlaufrennen im Rahmen der Tour de Ski. Biathlon in Oberhof ist wie eine riesige Party mit sehr viel Spaß. Das motiviert mich. Außerdem werden Freunde und meine Familie dabei sein. Wenn ich daran denke, muss ich lächeln und verspüre einen wahren Energieschub.
Fotos: IBU/Christian Manzoni, Evgeny Tumashov, Jerry Kokesh