Das sagt die Expertenrunde: Medaillenfavoriten (und Geheimtipps) für Olympia 2022

Nur noch wenige Tage, dann beginnen mit der gemischten Staffel die Biathlonwettkämpfe bei den Olympischen Winterspielen Peking 2022. Wie bei jedem Großereignis wird viel spekuliert, wer gute Medaillenchancen hat, wer ein Geheimtipp ist und wer eine Enttäuschung erleben könnte. Man denke nur an die Winterspiele in Turin 2006: Vor Olympia hätte wohl niemand gedacht, dass gerade Michael Greis zum größten Star werden würde, dem bis dahin mal gerade ein Weltcupsieg gelungen war – immerhin am Austragungsort der Winterspiele in San Sicario, genau ein Jahr vor seinen drei Goldmedaillen in Turin. Und dann sind es ja auch noch außergewöhnliche Spiele, die ins Haus stehen, im Schatten der Corona-Pandemie, unter harten Witterungsbedingungen und anderen Faktoren.

Vor diesem Hintergrund haben wir vier Biathlonexpertinnen und -experten gefragt, was sie auf dieser größten Bühne des Wintersports, den Olympischen Winterspielen, erwarten.

Unsere Expertenrunde Helena Ekholm: Biathlonexpertin beim Winterstudio des schwedischen Fernsehens, Weltcup-Gesamtsiegerin 2009, dreifache IBU Weltmeisterin

Chad Salmela: Führender NBC-Sportkommentator für Biathlon und Langlauf, ehemaliger Biathlet im Weltcup und bekannter College-Trainer

Liv Grete Skjelbreid: Biathlonexpertin beim NRK, Weltcup-Gesamtsiegerin 2004, dreimalige Medaillengewinnerin bei Winterspielen und sechsfache IBU Weltmeisterin

Dario Puppo: Italienischer Journalist und Eurosport-Experte für Biathlon, Tennis und Olympia

Die Wettkampfbedingungen

Abgesehen von der chinesischen Mannschaft und wenigen anderen, die in diesem Monat zur Stippvisite zu Gast waren, konnte sich im Vorfeld der Olympischen Winterspiele praktisch niemand mit der Anlage und den Bedingungen vor Ort vertraut. Laut Wettervorhersage sind kalte Temperaturen zu erwarten, unter minus zehn Grad, und das bei niedriger Luftfeuchtigkeit und starkem Wind. Das ist im Biathlon aber auch nichts Neues. Auf die Höhe von 1.665 Metern sind die meisten gut vorbereitet, denn auch Antholz liegt etwa auf dieser Höhe. Auch wenn manche Biathletinnen und Biathleten mit Wind und dünner Luft besser zurechtkommen, herrscht Chancengleichheit. Die Athletinnen und Athleten haben inzwischen eine Woche Zeit gehabt, Strecken und Schießstand zu testen und sich auf die Wettkämpfe vorzubereiten. Diejenigen, die gut vorbereitet zu den Winterspielen angereist sind, fokussiert und gesund eingetroffen sind und sich nicht von Dingen ablenken lassen, die sie nicht kontrollieren können, werden erfolgreich sein.

Salmela dazu: „Nach dem was wir über den Austragungsort gehört haben, können wir kalten, langsamen Schnee auf den Strecken erwarten. Wenn das so ist, dürfte das das Feld auseinanderziehen, und man wird eine gute Laufform und ideale Erholungsphasen brauchen, um über die ganzen zwei Wochen gut zu sein und zu bleiben.“

Auftakt gemischte Staffel

Den Auftakt macht die gemischte Staffel und bietet für die Großen im Sport die Gelegenheit, das Eis zu brechen und die Medaillensammlung zu beginnen. Salmela weiter: „Die gemischte Staffel nimmt für die Mannschaften, die an diesem ersten Tag Medaillen holen, schon mal viel Druck raus, weil dort schon 12 Medaillen vergeben werden – 6 an Männer und 6 an Frauen. ... Bei den Nationen, deren Favoriten hier schon Edelmetall holen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie weitere Medaillen gewinnen, weil sie den Erwartungsdruck abschütteln können.“ Puppos Einschätzung: „Die Norweger sind hier die Favoriten, und auch Frankreich. Mein Tipp: Frankreich:

Männer: Top-Mannschaften, größte Stars

Damit haben die zwei Top-Mannschaften und ihre großen Stars in den folgenden Einzelrennen einen Vorteil. Bei den Männern stehen auf der kurzen Liste der Medaillenkandidaten laut dem NBC-Kommentatoren, der zuletzt in Ruhpolding und Antholz vor Ort war, „Quentin Fillon Maillet, die Bö-Brüder, Sebastian Samuelsson, Martin Ponsiluoma, Loginov, Latypov und Smolski (eventuell Benedikt Doll oder Johannes Kühn, wenn Deutschland einen unglaublich guten Tag hat). Keine Überraschungen, die gibt es erst später.“ Skjelbreid stimmt zu: „Ich glaube, wir dürfen einen spannenden Zweikampf zwischen Fillon Maillet und Johannes Thingnes Bö um die meisten Siege bei den Männern erwarten.“ Ekholm fügt angesichts der Performance von JT in den letzten Wochen hinzu: „Ich glaube, Johannes Thinges Bö kommt pünktlich zu den Winterspielen in Topform. Hohe Erwartungen natürlich auch bei Samuelsson.“

Nicht zu vergessen Laegreid und...

Puppo will nicht zu viele Namen auflisten, und meint: „Wir werden nicht einen Star dominieren sehen, und ich glaube, dass viele Medaillengewinner geben wird. Laegreid darf man nicht vergessen. Er hat klar gesagt, dass er zu Saisonbeginn eindeutig nicht in Form war. Pünktlich zum Großereignis zeigt die Formkurve jetzt nach oben. Tero Seppälä oder sogar Vytautas Strolia könnten die Fans überraschen. Ich bin gespannt, was Eduard Latypov nach der Corona-Zwangspause leisten kann, aber ich glaube, dass er jetzt noch motivierter ist, in China gut abzuschneiden. Auch Dominik Windisch hat gute Chancen, da ging es im Januar mit der Form steil aufwärts.“

Salmela hatte eine überraschende Liste zur Hand, mit unter anderem: „Smolski, Vetle Sjaastad Christiansen (eher kleine Überraschung), JT Bö, Latypov, Seppälä und der 19-jährige Campbell Wright.“

Frauen: Marte und die Öbergs

Bei den Frauen nannte man fast einstimmig die Frau im gelben Trikot, Marte Olsbu Roeiseland. Ob es aber eine Wiederholung von Antholz 2020 geben wird, bleibt abzuwarten. Angefangen bei Salmela: „Ich tippe auf die Öbergs, weil das erste Rennen der Winterspiele die gemischte Staffel ist (im Grunde ein Teamsprint). Sie gewinnen vielleicht nicht, aber die Medaillenchancen sind sehr gut, und für mich nimmt das einfach ab Tag 1 den Erfolgsdruck raus, sodass sie in den nächsten zwei Wochen völlig befreit die Konkurrenz in Grund und Boden laufen können. Sie werden nicht alles gewinnen, aber bei voraussichtlich langsamem, kaltem Schnee und auf der Höhe wird die aerobe Leistungsfähigkeit/Fitness in den Rennen und bei der Erholung ausschlaggebend sein.“

Zu der Norwegerin sagte er weiter: „Marte ist die andere große Favoritin ... Sie steht körperlich, emotional und in Sachen Erfahrung SEHR gut da und ist damit in der besten Ausgangslage, um alles zu bewältigen, was bei diesen Winterspielen auf die Athletinnen einstürmen wird. Wie die Öbergs ist sie Teil einer Mannschaft, die sich vermutlich schon in der gemischten Staffel freilaufen wird.“ Weitere Medaillenkandidatinnen auf seiner Liste sind Dzinara Alimbekava, Lisa Theresa Hauser, Dorothea Wierer, Marketa Davidova, sowie Anais Bescond, Kristina Reztsova, Vanessa Voigt und Lotte Lie als mögliche Überraschungssiegerinnen.

Doro und vielleicht Stina

Liv Grete sieht die Situation für den derzeitigen norwegischen Biathlonliebling ähnlich, mit einer Einschränkung: „Ich glaube, dass Marte bei den Frauen das Feld dominieren wird. Aber es ist sehr offen, und vielleicht findet auch Dorothea Wierer zurück zur Topform, um Olsbu Roeiseland wie bei den IBU Weltmeisterschaften 2020 in Antholz gehörig Paroli zu bieten.

Puppo steht hinter Olsbu Roeiseland, wirft aber noch ein paar andere Namen ins Rennen, darunter eine große Überraschung: „Olsbu Roeiseland wird die Frau dieser Winterspiele sein, aber ich denke, dass auch Julia Simon in den Kreis der Favoritinnen gehört. Überraschen könnte uns Stina Nilsson, wenn sie sie im Sprint aufstellen.“ Ekholm steht hinter ihrer Heimmannschaft: „Große Hoffnungen für die schwedischen Frauen bei jedem Rennen und natürlich Marte als Star der Spiele.“

Staffeln an dominante Skandinavier

Was die Staffeln bei Männern und Frauen angeht, waren Puppo und Ekholm die einzigen, die sich aus dem Fenster lehnten, auch wenn die Favoriten klar sind, wenn man nach den Resultaten im BMW IBU Weltcup geht. Die Zeichen stehen auf Skandinavien. Der Italiener glaubt allerdings nicht an einen überlegenen Sieg bei den Männern: „Das ROC-Team dürfte sehr ambitioniert antreten und könnte Norwegens größter Widersacher sein. Mein Tipp: Norwegen. Bei den Frauen dürften wohl wie immer die Schwedinnen die Favoriten sein und werden sich wohl mit Frankreich duellieren. Mein Tipp: Schweden.

Ekholm sieht die Staffelfavoritinnen in direkter Nachbarschaft. „Schweden für die Frauenstaffel und Norwegen bei den Männern.“

Olympia-Saison als Schicksalsjahr So bewertet diese kleine Runde die Medaillenchancen der großen Stars. Salmela merkt an, dass eine Olympia-Saison für einen Fan-Liebling wie Tiril Eckhoff (mit immerhin schon fünf olympischen Medaillen) zum Schicksalsjahr werden kann. „Am bittersten ist die Situation für Tiril. Sie ist eine Granate, und so gut für den Sport. Mit Blick auf die Resultate ist es für sie eine enttäuschende Saison, und doch zeigt das ganz deutlich, welche Herausforderungen Biathlon auch für eine so talentierte und so bodenständige Person bereithält. ... Wenn gute Ergebnisse das Einzige sind, was zählt, wird es für Tiril eine traurige Saison. ... Egal, wie Olympia für sie läuft, ist sie ein echter Champion.“ Aber wir wissen ja: Es ist Biathlon, es sind Winterspiele. Alles ist möglich.

Die Spannung steigt: Uns stehen zwei wilde Wochen Winterspiele ins Haus! Fotos: IBU/Manzoni, Thibaut, Deubert

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