Die Nachricht, dass Johannes Thingnes Bø am Ende der Saison Schluss macht, löste regelrechte Schockwellen aus. Alle Welt wusste, dass er am Ende der kommenden – olympischen – Saison seine Laufbahn beenden würde. Nun also schon ein Jahr eher. Darüber bin auch ich traurig. Johannes ist ein fantastischer Athlet und zählt zu den besten Biathleten aller Zeiten. Genau wie ich ist er ein ausgesprochener Familienmensch. Daher kann ich sehr gut nachvollziehen, dass er mehr Zeit mit seiner Frau und seinen Kindern verbringen möchte. Und er hat jedes Recht dazu. Soweit ich gehört habe, hat er diese Entscheidung in der Weihnachtspause gefällt und nur auf den richtigen Moment für die Verkündung gewartet.
Johannes hat schon zweimal eine Pause eingelegt: Bei der Geburt seines ersten Kindes Gustav in der Saison 2019/20 und nach den Olympischen Winterspielen Peking 2022. Ich verstehe ihn. Für mich war es immer wichtig, vor wichtigen Wettkämpfen wie den IBU-Weltmeisterschaften oder den Olympischen Winterspielen eine Pause einzulegen und zur Ruhe zu kommen. Obwohl es für Außenstehende vielleicht nicht so aussehen mag, ist die Biathlonsaison doch sehr lang, vor allem, wenn man an allen Wettkämpfen, einschließlich Staffelrennen, teilnimmt. Pausen sind daher nicht nur für die körperliche Regeneration, sondern auch für die Genauigkeit am Schießstand sehr wichtig. Ohne geplante Pausen geht es nicht. Ich habe mir immer im April oder Mai einen klaren Plan für die neue Saison aufgestellt. Dabei habe ich einen Plan A, einen Plan B und einen Plan C erarbeitet. Dadurch hatte ich eine gewisse Sicherheit. Wenn man eine Pause einlegen will, muss man alles sorgfältig durchdenken. Johannes ist so talentiert, dass für ihn wahrscheinlich jeder Ansatz funktionieren würde.
Ich höre immer wieder Stimmen, die fragen, ob Johannes ein Herausforderer fehlt, wie er es für Martin Fourcade war. Das ist gut möglich. Denn es ist wichtig, dass man jeden Tag herausgefordert wird. Viele Athleten haben Johannes herausgefordert und tun das noch immer. Hier ist vor allem Sturla Holm Lægreid zu nennen. Und vor drei Jahren gewann Quentin Fillon Maillet den Gesamt-Weltcup. Nach der Verkündung von Johannes waren sehr viele Athleten unwahrscheinlich traurig. Vielleicht auch deshalb, weil sie ihm und seinen außergewöhnlich hohen Standards nun nicht mehr nacheifern können. Ohne Johannes wird sich die Dynamik im norwegischen Team genauso verändern wie bei den anderen Anwärtern auf den Gesamt-Weltcup. Doch wir müssen das Ende dieser und nächster Saison abwarten und schauen, wer weiterhin aktiv bleiben und vielleicht die Rolle von Johannes einnehmen wird. Durch seine vier zweiten Plätze in der Gesamtwertung scheint Sturla Holm Lægreid der erste Anwärter auf die Thronfolge von Johannes zu sein. Außerhalb Norwegens zeigen sich die Franzosen in dieser Saison in bestechender Form. Insbesondere Emilien Jacquelin hat eine neue Reife an den Tag gelegt. Neben ihm könnten auch Sebastian Samuelsson und vielleicht einige aufstrebende Talente ein Wörtchen um die neue Führungsrolle mitreden.
Bei den Frauen gilt Maren Kirkeeide für Ole Einar Bjørndalen als die neue große Biathletin in Norwegen. Ich stimme ihm dabei zu. Maren kann kühlen Kopf bewahren und hat die besondere Gabe, vor allem in den entscheidenden Rennphasen ihre Nerven im Zaum zu halten. Außerdem ist sie eine gute Läuferin. Ihr Erfolg in Oberhof hat mich positiv überrascht. Ich bin gespannt, wozu sie in Zukunft imstande ist, wenn sie ihre Schießzeiten weiter verbessert.
In der Gesamtwertung führt aktuell Franziska Preuß vor Lou Jeanmonnot und Elvira Öberg. Doch das Rennen ums Gelbe Trikot ist noch nicht entschieden. Der Kampf kann bis zum Saisonende noch spannend werden. Davon kann ich selbst ein Lied singen. Ungeachtet dessen hat mich Franziska wirklich beeindruckt, vor allem in Ruhpolding, wo sie sich nach ihrer kleinen Formkrise von Oberhof eindrucksvoll zurückgemeldet hat. Sie bleibt meine Top-Favoritin auf die Große Kristallkugel, da sie konstant gute Leistungen abliefert und aufs Podium läuft. Elvira ist aber immer gefährlich, wenn sie eine Siegchance wittert. Zwar hat sie nicht diese Konstanz am Schießstand, aber trotzdem ist für sie noch alles möglich. Für Lou Jeanmonnot bietet sich in Antholz-Anterselva die perfekte Gelegenheit, nach ihrem enttäuschenden Massenstart von Ruhpolding zurückzuschlagen. Das französische Team ist in der Höhe meist gut drauf und ich habe keinen Zweifel daran, dass Lou in Südtirol ihre große Klasse unter Beweis stellen wird.